Tag und Nacht schießt alle vier Stunden...
Elmar 5 cm
[neuer Gelatinesilberabzug, 18,1 x 26,6 cm]
DER JUNGE GOETHE IN WETZLAR
Wenden wir uns darum tröstlicheren Dingen zu, nämlich dem Jahre 1772, das den jungen Goethe in den Mauern der kleinen Reichsstadt sah. So von Herzen freiwillig geschah dieser Aufenthalt allerdings nicht, wenigstens nicht, soweit es die Zuteilung zum Reichskammergericht betraf, als vielmehr auf ausdrücklichen Wunsch des Vaters, der solche Studien für seinen Sohn als durchaus nötig und wichtig erachtete. Goethe selbst war wohl anderer Meinung, so daß die Räume des Reichskammergerichts am Buttermarkt in den vier Monaten seines dortigen Lebens wenig von ihm sahen. Er hatte eben die Straßburger Erlebnisse hinter sich, die bedeutungsvolle Freundschaft mit Herder, Salzmann und Stilling; hatte die aufwühlende Begegnung mit Friederike Brion, aus der er nicht freien Gewissens hervorgegangen, mit seiner ersten Gestaltung des Götz von Berlichingen bis zum gewissen Grade verwunden. Andererseits muß man verstehen, daß dieser junge Goethe, der nach begeisterten zeitgenössischen Schilderungen nicht nur ein schöner Mensch von stolzem Wuchs, auffallend hoher Stirn und leuchtenden Augen, sondern auch von bezwingend freiem Auftreten und angenehmen Manieren war -, dessen Genialität schon bei erstem Kennenlernen einen jeden in Bann schlug -, daß dieser Goethe, dem Frankfurt mitsamt hochherzigem Elternhaus zu enge gewesen -, nicht viel von Aktenstaub und sich lange hinziehenden Prozessen hielt. So berüchtigt langweilig zogen sich die Cameral-Prozesse hin, daß es eine absolut übliche Redewendung wurde, von langwierigen Dingen zu sagen: „Es hangt so lange wie ein Spruch in Wetzlar!“ Nebenbei bemerkt: Bezeichnend für die Richtigkeit dieses Spruches ist auch die Tatsache, daß der Herr de Beaurieux sich für einen solch notgedrungenen Aufenthalt in Wetzlar eigens ein prächtiges Haus am Buttermarkt erbaute, das mit seiner schönen Barockfassade leider mit manch anderen Zeugen alter Baukultur den Kriegseinwirkungen zum Opfer fiel.
Es war ein ziemlich turbulentes Leben, das die übliche, lange Prozeßdauer ausgangs des Rokoko mit sich brachte für die Stadt, durch Anwesenheit der Streitenden mitsamt Dienerschaft; denn mancher Fremdling ließ sich die Wartezeit nicht verdrießen, sondern gerne durch die charmante Gesellschaft galanter Damen aus der Pariser Gasse - nahe dem Dom - verkürzen. In krassem Gegensatz zu dieser Geselligkeit stand jene der hochwohllöblichen Cameral-Familien, deren Dünkel und sehr stolze, aber keineswegs durch Leistungen gerechtfertigte Überheblichkeit kaum zu überbieten gewesen sein dürfte.